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Eigentlich wäre es ja zum Lachen: Ein lokales Portal bläst die Sichtung einer harmlosen Schmuckschildkröte zur Präsenz einer gefährlichen Schnappschildkröte im Aschauer Schwimmbad auf. Es folgt eine mediale Kettenreaktion – ein Dementi erfolgt allerdings nicht!
Wie vermutet – falscher Alarm!
Vor wenigen Tagen setzte ich mich in diesem Beitrag investigativ mit der Frage auseinander, ob es im Badeplatz Aschau tatsächlich eine gefährliche Schnappschildkröte geben könnte. Verschiedene Medien hatten darüber berichtet. Diese Übersicht in google gibt eine Ahnung, wie viele Medien im Sommerloch über dieses Thema (mutmaßlich automatisiert) falsch berichtet haben: u.a. BILD, SZ, DIE ZEIT. Warum automatisiert? Weil die Basis der News bei den meisten Portalen die folgende DPA-Meldung ist: dpa:220726-99-157814/2. Darin zitiert werden sogar noch Warnungen der Polizei Prien – Warnungen, die es auf dem offiziellen Polizeiportal Bayern bis heute nicht zu finden gibt.
Die mediale Schlacht rund um das „Monster von Loch Aschau“ ist am Ende jedoch nicht mehr als eine Ente im Sommerloch! Beleg dafür: Am Badeplatz Aschau weist mittlerweile der oben abgebildete (allerdings unaufällig angebrachte) Hinweis darauf hin, dass es sich bei der gesuchten Schildkröte mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit um eine kleine, völlig harmlose Rotwangen-Schmuckschildkröte handelt – und nicht um eine objektiv gefährliche Schnappschildkröte. Sie zählen nicht umsonst zur Familie der Aligator-Schildkröten, die mit 2 Tonnen Bisskraft erhebliche Verletzungen verursachen können. Eine Warnung hätte daher durchaus Grund, wie das aktuelle Beispiel aus Bottrop in NRW aus diesem Jahr und das etwas ältere Beispiel von 2020 in Viersen ebenfalls in NRW belegt: Gefährliche exotische Tiere können Züchtern entfliehen, für längere Zeit überleben und sich zu allem Überfluss auch noch vermehren. 200 Schnappschildkröten in Viersen? Gut dass die Medien davor warnen, einfach so in dieses Gewässer zu gehne! 150.000 Views des Viersen-Videos zeugen vom medialen Interesse am Thema „Vorsicht! Schnappschildkröte“ … zu Recht! Danke liebe BILD für diese berechtigte und fachlich absolut angebrachte Warnung!
Zur Einordnung entsprechender Warnungen:
Eine Schnappschildkröte – ihre Existenz einmal unterstellt – wäre in einem derart kleinen und sehr gut besuchten Schwimmbad wie dem Badeplatz Aschau im Fall der Fälle für Menschen objektiv wesentlich gefährlicher als ein Wolf oder ein Bär in einem riesigen Gebiet wie den Alpen oder einem Truppenübungsplatz. Aufgrund der Tatsache, dass auch hier auch noch eine polizeiliche Warnung suggeriert wurde, handelt es sich bei der Info „Schnappschildkröte im Naturbad“ daher auch nicht um ein „mediales Kavaliersdelikt“. Ich selbst habe mir sehr wohl überlegt, ob ich ins Wasser gehen würde, wenn tatsächlich die Gefahr bestünde, dass eine Schnappschildkröte gut versteckt irgendwo aufgeschreckt zubeißen könnte. Berechtige und verantwortungsbewußte Warnungen vor Schnappschildkröten und anderen potenziell gefährlichen Exosten sind daher wichtig und zu begrüßen: Auch und gerade in überregionalen Medien! Umgekehrt gilt: Falsche oder schlecht verifizierte Warnungen wie diese müssen als Vermutung – oder wie bei „DIE ZEIT“ als nicht redaktionell verifiziert deutlich gekennzeichnet werden. Insofern empfinde ich die nicht als solche gekennzeichnete teilautomatisierte und mutmaßlich falsche mediale Alarmierung auch nicht als „Banalität“ – im Gegenteil!
Die Vermutung, dass es eine Rotwangenschildkröte sein dürfte, hatte ich schon in meinem ersten Beitrag aufgestellt – da kannte ich den Hinweis am Eingang noch nicht – es war auch meine Frau, die ihn entdeckte, nicht ich! Der Hinweis wurde offenbar als Reaktion auf die irreführenden Medienberichte ausgehängt. Liest man ihn genauer, wird klar, dass die dort beschriebene, am 24.6.2022 entflohene Schmuckschildkröte der vermeintliche Übeltäter ist. Die ebenso winzige wie harmlose Schmuckschildkröte kommt aus einer Straße, die in unmittelbarer Nähe des Schwimmbads liegt: Der Gedererstraße! Ich habe das mal auf dem unteren Bild nachgezeichnet: Einmal von dort ein paar hundert Meter über die Wiese laufen, schon ist selbst eine eher langsame Schildkröte dort angekommen wo sie in der Natur hingehört – und wo sie laut mehrerer „Zeugen“ schon vor Wochen mehrfach gesichtet wurde: Im Aschauer Schwimmbad!
Kritisch zu beurteilen ist vor allem das Verhalten der Medien!
Dass Besucher von einer Schildkröte im Wasser aufgeschreckt sein können – ok. Was allerdings nervt ist die Art, wie Medien darüber berichten: Nämlich reißersisch, alarmistisch und ohne irgendwelche Verifikation der durchaus alarmistischen Angaben. Natürlich verlassen sich die Massenmedien auf eine DPA-Meldung und veröffentlichen sie automatisiert! DIE ZEIT macht das auch deutlich – allerdings als einzige der reichweitenstarken Portale. Auf den anderen muss man suchen, um die Quelle der News zu finden.
DPA scheint auch nicht wirklich im Polizeiportal nachgeschaut zu haben, ob es tatsächlich eine „Fahnungsmeldung“ oder „offizielle Warnung“ gegeben hat. Wie doppelbödig das Spiel der Medien ist, lassen vor allem die Schlagzeilen des Portals ahnen, das mit als erstes über die ganze Sache berichtet hat und so den Ball mutmaßlich ins Rollen brachte – gemeint ist das Portal Rosenheim24, das auch ich regelmäßig als Chiemgaubewohner lese. Es zitiert als einzige nicht die DPA – es scheint sich also um Eigenrecherche zu handeln! Das macht auch durchaus als lokales Blatt Sinn.
Schauen wir uns zwei Artikel zur Schildkröte an, die dort publiziert wurden:
- Die reißerische Ausgangsschlagzeile „Schnappschildkröte im Aschauer Naturfreibad gesichtet – schwierige Rettung“ erfolgte spätestens am 26.7. morgens – frei zugänglich für jedermann lesbar, ganz ohne Paywall.
- Die Überschrift des zweiten Artikels von Rosenheim24 anderthalb Tage später relativiert das Ganze schon etwas: „Aschau: Welche Schildkroetenart treibt im Naturbad ihr Unwesen?“ Aber: Dieser neue Artikel ist – anders als die erste Version – nur für Abonnenten lesbar.
Es erfolgt also eine ausschließlich für die Abonnenten erreichbare (mutmaßliche) Richtigstellung, dass die Schnappschildkröte gar keine Schnappschildkröte ist, sondern eine harmlose Rotwangen-Schmuckschildkröte, deren Bild auch gleich mit abgebildet wurde. Anders formuliert:
- Der reißerische Artikel ist nach wie vor frei verfügbar (= mediales Gift). Er wird nicht einmal nachträglich in Anbetracht der mittlerweile bekannten Informationen zum Tier korrigiert!
- Der richtigstellende Artikel kann nicht von jedermann gelesen werden (= „mediales Gegengift“).
Es ist m.E. mindestens zu fordern, dass der zweite Artikel ebenso frei zugänglich ist, wie der erste! Und: Der erste Artikel sollte in Anbetracht des zweiten Artikels mindestens einen Update-Hinweis auf „neue Fakten“ enthalten! Ebenso ist zu prüfen, warum die auf DPA-basierende, automatisiert publizierte „Ente“ auf den anderen Portalen nicht automatisiert upgedated bzw. relativiert wird, wenn sich ihr Inhalt auf dem Portal, das als erstes über das Thema berichtet hat, als zweifelhaft erweist?!
Shame on you – media!
Ich greif jetzt mal ganz tief in die Tasche der Medienschelte – eben genau so wie es die Medien selbst ganz gerne tun: Provokativ, undifferenziert, übertreibend und reißerisch:
- Alle fragen sich, warum Populisten in Anbetracht von Social Media so erfolgreich sind!
- Alle fragen sich, warum kommerzielle Medien das Ganze nicht mehr auffangen können!
- Alle fragen sich, was einen Politiker, Scharlatan und aggressiven Medienkritiker wie Trump möglich gemacht hat!
Bei allen drei Fragen lautet ein Teil der Antwort: Weil kommerzielle Medien immer öfter mit vollem Bewußtsein oder automatisiert Unsinn verbreiten – und ihn anschließend nicht einmal (automatisiert) richtigstellen wie das obige Beispiel zeigt.
Trump bezeichnet die Medien gerne als „Fake News“-Produzenten. Und er bedient sie entsprechend mit allerlei Informationen, die genau das sind „Fake News“. Werden sie automatisiert verbreitet bzw. nicht zurückgepfiffen, entsteht eine enorm reichnweitenstarke „Bullshit-News-chain-reaction“!
Was war und ist die „Aschauer Schnappschildkröte“ am Ende anderes als „Fake News“? Zudem eine solche, die durchaus Panik verbreiten könnte und ggf. auch lokal tatsächlich verbreitet, denn Schnappschildkröten sind gefährlich! Wozu haben alarmierende News zu einer „Schnappschildkröte“ im Jahr 2013 geführt? Kann man hier alles nachlesen! Kein Spaß – soviel ist klar! Die Konsequenz wird von Rosenheim24 offenbar genauso in Kauf genommen wie von allen anderen Medien, die diese von der DPA verbreiteten „Fake News“ unreflektiert bzw. automatisiert weiterverbreitet haben.
- Medien als auch die DPA tragen in Zeiten der Digitalisierung eine besonders hohe Verantwortung dafür, dass Informationen von Beginn an richtig sind bzw. genau geprüft werden.
- Der Grund: Falsche und unzureichend geprüfte News können mit rasend hoher Geschwindigkeit verbreitet und kaum mehr effizient in kurzer Zeit gelöscht werden.
- News dürfen nicht aus (kommerziellem) Eigennutz reißerisch verbreitet werden, wenn nicht abgesichert ist, dass die Info richtig oder wenigstens belastbar ist – erst Recht, wenn die Polizei als Warner mit zitiert wird.
- Sind News falsch oder hoch fraglich (wie hier), müssen richtige Information im Nachgang unverzüglich zugänglich gemacht und die falsche News muss als solche gekennzeichnet werden.
- Auch die DPA sollte Korrekturen automatisiert versenden bzw. sich auch eigeninitiativ darum kümmern, die Richtigkeit einer ohne Nachweise versehenen alarmistischen Ausgangsmeldung im Nachgang zu prüfen.
Ohne entsprechende Vorkehrungen entstehen schnell mediale „Freakwaves“ wie ich sie bereits 2011 in diesem Artikel zum Zusammenspiel von Social Media und kommerziellen Medien beschrieben hatte: Lieber ungeprüft etwas veröffentlichen als Gefahr zu laufen, dass man als Medienunternehmen eine reichweitenstarke Schlagzeile versäumt.
In diesem konkreten Fall wurde von Rosenheim24, aber auch von der DPA beides nicht gemacht! In Punkto medialer „Digital Responsibility“ im Hinblick auf das genannte Portal und die automatisierte Medienmaschinerie heißt das für mich: „Setzen sechs!“
Bild Nr. 1 zeigt, dass die entflohene und harmlose Schmuckschildkröte keinen Kilometer entfernt ihre Heimat hat. Bild Nr. 2 zeigt die erste Meldung von Rosenheim24 – und zwar ohne DPA-Kennung! Dies läßt vermuten, dass es sich um das „Original“ der Meldung handelt. BILD, SZ, ZEIT und andere Medien verbreiten z.T. automatisiert den Unsinn, kennzeichnen ihn aber mit Ausnahme DER ZEIT wenig erkennbar als DPA-Meldung durch folgenden Hinweis (am Ende) „© dpa-infocom, dpa:220726-99-157814/2“.
Das letzte Bild zeigt, was Rosenheim24 offenbar schon weiß, aber als Info hinter einer Paywall versteckt: Es gibt gar keine Schnappschildkröte! Da offenbar die Richtigstellung dieser News keinen Newswert hat (sie wäre ja auch latent medienkritisch, weil die fahrlässige oder bedingt vorsätzliche Verbreitung falscher News eingeräumt werden müßte) schwirrt weiterhin nur die „Fake News“ herum. Auch DPA hat bislang offenbar keine Korrektur versendet.