Im September 2022 erhielt ich den „Mutmacher-Preis“ des „Netzwerk-NET“. Die Geschichte dahinter hat viel mit „Doktor eBike“ zu tun. Ein Beitrag in eigener Sache.
Heute erhielt ich die neuste Ausgabe der „Diagnose-NET“
Als ich heute früh (am Morgen des 23.12.2022) zu meinem Briefkasten ging, erwartete mich eine wunderbare Überraschung. Es war die neuste Ausgabe der „Diagnose-NET“ des Vereins Netzwerk-NET.de. Es ist ein Magazin, das man vermutlich nur unter zwei Voraussetzungen kennt:
- Man ist Arzt und beschäftigt sich mit seltenen Krankheiten wie einem neuroendokrinen Tumor (NET).
- Alternativ ist man selbst von einem NET betroffen oder man ist einer solchen Person angehörig.
Bei mir ist es letzteres, und über die Weihnachtsausgabe der „Diagnose NET“ freute ich mich diesmal besonders: Darin enthalten ist nämlich ein Artikel über die Verleihung des „Mutmacher-Preises“ 2022. Vergeben wurde er tatsächlich an mich – nicht zuletzt wegen meines Blogs „doktor-ebike.de“, weshalb ich an dieser Stelle einen längeren Artikel zum Thema veröffentlichen möchte.
Für die Auszeichnung darf ich mich an dieser Stelle zu allererst noch einmal ganz herzlich beim Team des Netzwerk-NET-Team als auch den Teilnehmer*Innen des Tumortags 2022 bedanken: Es ist eine ebenso wunderbare wie kreative Auszeichnung, die selbst dem jeweiligen Empfänger zusätzlichen Mut verleihen kann. Besondere Bedeutung hat in dieser Hinsicht für mich vor allem das NET-Zebra, das mich nahezu täglich auf meinem Weg zur Arbeit und zurück begleitet. Ohne NET hätte ich die Auszeichnung nie erhalten – nicht nur deshalb kann ich meiner (geheilten?!) Krankheit regelmäßig etwas Positives abgewinnen.
Nachfolgend der Artikel zur Verleihung des Mutmacher-Preises 2022 in der „Diagnose NET“ (zum Vergrößern Klicken):
Blick zurück nach vorn
Als ich nun den lang ersehnten Artikel im Magazin las wurde mir tatsächlich ein wenig warm ums Herz. Immerhin liest man dann noch einmal schwarz auf weiß, was einem als Betroffener eines NET nicht permanent bewusst sein muss: Dass so ein Tumor das eigene Leben verändert hat – und zwar zum Positiven.
Nun hatte ich schon bis zur Diagnose ein ziemlich gutes Leben. Umso erstaunlicher ist, dass sich das Leben nach einigem Auf und Ab in Folge des Tumors besser anfühlt als nahezu die gesamte Zeit davor – und wir reden hier über knapp 56 Jahre (so alt war ich zum Zeitpunkt der Diagnose). Dieses durchaus erstaunliche Phänomen schilderte ich nicht nur im Artikel der „Diagnose NET“, sondern auch in einem weiteren Artikel, der vor kurzem in der gedruckten Ausgabe der Tageszeitung „DIE WELT“ zu seltenen Krankheiten erschien.
Einen Tag vor Heilig Abend, bei regnerischem Wetter und viel Zeit für Gedanken aller Art, frage ich mich nun: Was bewirkt eigentlich dieses Phänomen der zumindest gefühlt höheren Lebensqualität, das nicht nur wegen einer Tumorerkrankung, sondern auch aufgrund des fortschreitenden Alters und damit einhergehend allerlei kleiner „Zipperchen“ nicht selbstverständlich ist. Ich fragte mich darüber hinaus: Wie spielen die beiden Aspekte des Älterwerdens und der zumindest bis heute erfreulich gut verlaufenden Krankheit zusammen?
Gunther Sachs sagte einen erstaunlichen Satz
Zunächst zum Altern. Dazu fällt mir immer wieder eine Dokumentation über Gunther Sachs ein, dessen Sohn Rolf Sachs ich kürzlich in Aschau (zumindest kurz) kennenlernen durfte. In der Dokumentation (die ich leider immer noch nicht finden konnte) wurde Gunther Sachs sinngemäß gefragt, welches Alter er sich zurückwünschen würde bzw. welches Alter sein bester Lebensabschnitt gewesen sei. Zu meinem Erstaunen sagte er: „Mit 53 Jahren.“ Bei einem Mensch mit einem derartigem Jetset-Leben hätte ich vermutet, dass er sagt: „Mit 25 oder 30 Jahren.“ Ich fand die Antwort u.a. deshalb so bemerkenswert, weil ich mir seinerzeit dachte: „Na, dann kann ich mich ja ebenfalls aufs Älterwerden freuen!“ Leicht eingeschränkt wurde diese Einstellung lediglich durch die Erkenntnisse eines anderen bekannten Menschen: Gemeint ist Joachim Fuchsberger. Er schrieb das Buch „Altwerden ist nichts für Feiglinge“ – und was er so zu erzählen weiß, überzeugt durchaus.
Bislang ist mein Leben (trotz der erfahrungsbasierten Thesen Fuchsbergers) wegen des Älterwerdens bislang nicht schlechter, sondern tatsächlich durchaus besser geworden. Mit Ende 58 ist man zwar noch nicht super alt, aber eben auch nicht wirklich jung. Und wenn man sich in diesem Alter wohler fühlt als manches Jahrzehnt zuvor, dann mag dies eben auch daran liegen, dass (aus welchen Gründen auch immer) irgendwann zu fortgeschrittener Lebenszeit eine angenehme, weil energieintensive innere Ruhe eintreten kann, die zuvor nicht selbstverständlich gewesen ist. „Energieintensiv“ habe ich deshalb hinzugefügt, weil der Begriff „Ruhe“ als „inaktiv“ mißverstanden werden kann – und genau das ist eben nicht der Fall: Ich bin vielleicht aktiver als je zuvor, jedenfalls nicht weniger aktiv, ich bin aber eben auch innerlich ruhiger.
Diese aktive Ruhe ermöglichte es mir, zu meiner eigenen Überraschung selbst dann vergleichsweise gelassen zu bleiben, als ich die Diagnose „Bauchspeicheldrüsentumor“ erhielt. Mir scheint nach wie vor, dass ich bei dieser für viele Menschen alptraumhaften Diagnose vor knapp drei Jahren nur deshalb so entspannt blieb, weil ich aufgrund meines Alters immer wieder unterschwellig erlebt hatte, dass schrecklich wirkende Informationen nicht immer so eine schreckliche Wirkung haben müssen, wie man vermuten könnte. Vielleicht ist es ein über die Jahre gewachsenes Urvertrauen, das die mit dem Älterwerden näherrückende Endlichkeit im positiven Sinne mit beinhaltet.
Lebensfreude trifft Akzeptanz der Endlichkeit
Neben dem Älterwerden war und ist es dann aber in erster Linie der Tumor selbst, der die ungeschönte Auseinandersetzung mit der eigenen Endlichkeit erzwingt. Endlichkeit ist jedoch nicht wirklich vorstellbar: Für mich weder als gesundem, noch als krankem oder geheiltem Mensch. Jedenfalls gelingt es mir – vermutlich zu meinem eigenen Glück – nicht, sich die eigene Nonexistenz nach Ende des Lebens vorzustellen.
Ganz anders ist es beim Abschied von Träumen sowie bei der Vorstellung von Schmerz und Leid:
- Der Abschied von Träumen geht einem nach einer Tumor-Diagnose durchaus schnell durch den Kopf: Was werde ich vielleicht nicht mehr erleben, was ich eigentlich noch erleben wollte?
- Schmerz und Leid kann man sich gleichermaßen gut vorstellen – selbst wenn man noch jung ist. Mit dem diesbezüglich Vorstellbaren gilt es sich (jedenfalls in meinen Augen) zu arrangieren.
Ich erwähne das an dieser Stelle, weil beide Aspekte im Hinblick auf diesen Blog, seine Inhalte und ganz generell mein Faible für E-Biken von hoher Relevanz sind:
- Sinniger Weise hatte ich nie den Wunsch, zu E-Biken – dafür ist es heute ein nahezu unverzichtbarer Teil meines Lebens. So gesehen entstand ein neuer realer Traum durch den Tumor, ohne dass alte Träume hätten aufgegeben werden müssen. Statt eines Verlustes kam ein realisierter Traum hinzu.
- Und: Zum E-Biken gehört für mich immer wieder auch die Akzeptanz von Schmerz. So habe ich mir erst letztes Wochenende wieder mal bei einer kurzen, aber flotten Fahrt auf der Aschauer Skipiste die Rippen (an-)gebrochen, was von morgens bis abends und vor allem Nachts im Liegen „zwickt“. E-Biken ist zwar definitiv keine Hochrisikosportart wie Wing Suit Fliegen, aber je nach Fahrweise birgt es die Gefahr eines mitunter schmerzhaften Touchdowns … mehr zur Bedeutung von Risiko und Schmerz in Anbetracht einer Tumorerkrankung in diesem Beitrag.
Ist man nun eigentlich am Ende oder am Anfang?
Im Laufe der Jahrzehnte entwickelte sich in mir mehr oder weniger unbewusst ein Gleichnis, dass mir vermutlich dabei geholfen hat, die Situation nach der Tumorerkrankung zumindest nicht negativ zu sehen. Behilflich waren mir diesbezüglich viele kleinere und mittlere Niederlagen, die sich durchaus in der einen oder anderen temporären, nicht immer leicht zu überwindenden Lebenskrise niedergeschlagen haben. In jedem Jahrzehnt meines Lebens gab’s davon wenigstens eine.
Der Witz dabei war und ist eine Redewendung, die ich vermutlich erstmals Ende 2009 auf den (gedanklichen) Lippen hatte. Es war eine Zeit, als ich mich für einige Wochen vor allem mit meiner psychischen, zum Teil auch der physischen Kraft „am Ende“ wähnte. Damals (ich war Mitte 40 und wohnte noch in Berlin) setzte ich mich immer wieder mit dem Gefühl meiner mutmaßlich nachlassenden Energie auseinander. Dies war zwar nicht wirklich der Fall, aber ich bildete mir zeitweise ein, dass es so ist. Und wie von Zauberhand entstand damals ein Satz in meinem Kopf, der bis heute als unverzüglich wirkendes „Gegengift“ wirkt, sollte mal wieder der Gedanke des „am Ende seins“ (warum auch immer) auftauchen.
Gemeint ist die gedankliche Umpolung: „Ich bin nicht am Ende: Ich bin am Anfang!“
Man muss kein Optimist sein …
Wer mich länger kennt, weiß dass ich ein durchaus kritischer Geist bin und eigentlich immer schon war. Optimismus-Parolen sind meine Sache noch nie gewesen. Pessimismus war allerdings auch nie mein Ding. Eher sah und sehe ich mich als konstruktiv-kritischen, ebenso willensstarken wie zähen Realisten, der die Sonne und blauen Himmel über alles liebt, aber Sturm und schlechtem Wetter freudig die Stirn bietet und die zum Teil recht hohen Wellen der Stürme des Lebens mitunter genießt (was wiederum die Freude an der nachfolgenden Sonne ins Maßlose steigert). Frei nach Friedrich Nietzsche: Was mich nicht tötet macht mich härter …
Warum schreibe ich das?
Weil das Gefühl „Ich bin am Anfang!“ wie von selbst entstand, als der Tumor in mein Leben trat. So richtig begreifen konnte ich dieses Bauchgefühl allerdings erst in dem Moment, an dem ich mich entschloss, diesen E-Bike-Blog zu beginnen. Das wiederum war irgendwann im Herbst 2020 der Fall. Damals träumte ich nachts vom Begriff „Doktor eBike“. Als ich dann in der Früh mit dem E-Bike bei kühlem Wetter nach Frasdorf und zurück fuhr, um Brot zu kaufen, ging mir der Begriff nicht mehr aus dem Kopf. Zudem entstanden lebhafte Bilder, was unter diesem Begriff entstehen sollte: Etwas Neues, Lebendiges, Authentisches, mit Emotion, mit Auf und Abs. Vor allem aber etwas Ausdauerndes, etwas bei dem man auch eine Zeit experimentieren und durchhalten muss, nicht aufgeben darf – und schon befand ich mich gedanklich am einem imaginären Anfang, der bis heute fortwirkt: Es war die Geburt der Illusion eines neuen und positiven Lebensabschnitts.
Das Zulassen von Illusionen ist wichtig
Nun bin ich von Hause aus viel zu reflektiert geprägt, um mich einfach so einer fixen Idee hinzugeben: Mein Vater konfrontierte mich über Jahrzehnte hinweg mit allerelei psychologischen Modellen wie jenem der „primären und sekundären Naivität„. Juristen nennen so etwas „aufgedrängte Bereicherung“. Insofern entwickelte ich unfreiwillig im Sinne des bereits erwähnten Philosophen Nietzsche „Ohren hinter den Ohren„: Das sind feine Antennen, die beim Erkennen von Illusionen aller Art wie von selbst anspringen und mitunter vor ihnen warnen. Das gilt auch und vielleicht sogar vor allem im Hinblick auf die eigenen Illusionen, Lebenslügen und Verblendungen – die ich wie jeder andere Mensch mal mehr, mal weniger für mich selbst wahrnehmbar besitze.
Vor diesem Hintergrund vermute ich, dass dieser Blog mein Leben ebenso wenig verändert oder lebenswerter gemacht hat, wie das E-Bike. Beides sind in erster Linie äußere Symbole oder Anlässe einer zuvor und teilweise auch zeitgleich erfolgenden inneren Veränderung, die mit anderen Instrumenten als dem E-Bike und unter anderen Umständen anders und doch ähnlich hätte erfolgen können. Oder eben nicht, falls die Bereitschaft zur inneren Veränderung nicht einen kurzen Moment zuvor bereits angelegt gewesen wäre.
Man könnte dies auch im Sinne des streitbaren und von mir nur bedingt geschätzten Motivationstrainers Jürgen Höller (den ich 1998 mal interviewt habe) so formulieren: „Materie folgt dem Geist“. Heißt übersetzt: Die Aktivität nach außen ist nicht die eigentliche Ursache, sondern der Spiegel der inneren Einstellung bzw. deren Veränderung sowie der Bereitschaft, neue und unbekannte Wege zu gehen und – egal was kommen mag – dies nicht als Verlust, sondern als Gewinn empfinden zu können. All das ist möglich, und um damit wieder zu Jürgen Höller und seinen meiner Meinung nach nur bedingt motivierenden Thesen zu kommen: In Anbetracht einer Krankheit ist aber eben nicht „alles“ möglich. Vielmehr gilt es, das individuell Mögliche inklusive dafür hilfreicher Illusion zumindest zu (ver)suchen.
Nicht anders ist es mit dem Schreiben von Texten auf diesem Blog (es sind heute schon über 400 Artikel in etwas mehr als zwei Jahren): Es ist im Kern egal, ob ich zu digitalen Themen, zu Gesundheit, zu E-Bike oder meinen E-Bike-Touren schreibe, es ist egal, ob ein Artikel tausende oder nur fünf Leser findet. Ja, natürlich freue mich, wenn ich laut Google Analytics aktuell rund 4.000 Leser pro Monat habe – davon werden weniger als 100 Artikel zum Teil recht viel und der Rest der Artikel kaum gelesen. Wenige Leser*Innen hat insbesondere mein persönliches Tagebuch, das mit Abstand die meisten Beiträge hat, weil es für mich persönlich geschrieben ist: Es ist nicht ansatzweise so reichweitenstark wie drei Top Artikel (ganz vorn mit vielen Tausend abrufen: Mein Artikel zu Libre Freestyle 3, zum Kettenwechsel oder mein Test der Schwalbe Smart Sam). Doch jeder einzelne Text ist gleich viel wert – egal wie oft er gelesen wird. Jeder einzelne Text symbolisiert für mich die wunderbare Illusion, sich nach wie vor an einem laufend fortschreitenden, positiven Anfang zu befinden.
Die Illusion liegt dabei in der Umdeutung, sich anstatt am Ende des gewohnten „alten Lebens“ ohne Tumor, in einem „neuen Leben“ mit bzw. nach Entfernung eines Tumors zu befinden. Einem neuen, sehr lebenswerten Leben, das allerdings auch endlich ist und irgendwann enden wird – früher oder später. Es ist dieses neue Leben, das ich mit dem E-Bike und diesem Blog untrennbar verbinde – auch wenn dieses neue Leben – wie gesagt – im Kern mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht mehr oder weniger als lediglich eine liebenswerte Illusion ist.
Die Kunst – so möchte ich meinen – ist diese Art von positiver Illusion so lange wie möglich zuzulassen, sie zu pflegen und sie aktiv zu genießen … aber dabei stets den offenen Blick für die nicht immer rosige Realität zu bewahren, die mit einer Tumorkrankheit einhergeht oder zumindest potenziell einhergehen kann.